Vom Ohrwaschel, das uns beim Sehen hilft und der Geschichte von Verkehrsberuhigungsmaßnahmen in Wien.

Bauliche Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung rufen mitunter Widerstände hervor, auch wenn sie zur Verkehrssicherheit beitragen. So auch Gehsteigvorziehungen im Kreuzungsbereich, in Wien kurz „Ohrwaschel“ genannt.

Straßengestaltung, die auf Qualität und Sicherheit des Fußverkehrs achtet, gehört in Wien heute zum Standard bei Straßen Um- und Neubauten. Das war nicht immer so. Erst Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts fand ein Umdenken in der Stadtplanung in Richtung Verkehrsberuhigung statt. Maßnahmen wie Fahrbahn-Aufdoppelungen oder Gehsteig-Vorziehungen sollten die Fahrgeschwindigkeit reduzieren und Personen am Straßenrand besser sichtbar machen. Als „Parkplatzraub“ und „Fahrbehinderung“ stießen diese Vorhaben zuerst auf erbitterten Widerstand.
Geduldigen Persönlichkeiten mit Durchhaltevermögen in Verwaltung und Stadtpolitik von damals gilt es zu danken – denn heute zeigt sich: viele der damals begonnenen Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung zeigten Erfolg. Seit dem Jahr 1983 sinkt die Zahl der im Straßenverkehr verletzten oder getöteten Zu-Fuß-Gehenden kontinuierlich. Heute strebt die Stadt Wien mit der „Vision Zero“ an, die Zahl der Getöteten auf Wiens Straßen auf Null zu senken.

Autogerechte Städteplanung

Ab den späten 1930er Jahren erobert das Auto, durch Erfindung des Volkswagens, breite Bevölkerungsschichten. Städte werden autogerecht geplant. Erst Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre passiert ein langsames Umdenken.

Verkehrsberuhigungsmaßnahmen werden beschlossen

Ein entscheidendes Datum war der 2. September 1985. Eine Büroverhandlung der MA 46 zum Thema „Bauliche und verkehrstechnische Maßnahmen in  Wohngebieten zur Abminderung der Fahrgeschwindigkeiten und Hebung der Verkehrssicherheit von Kreuzungen“ fand statt.
Aus der Niederschrift: „Gerade in Wohngebieten gilt es eine menschengerechte Verkehrsplanung umzusetzen, d.h. im Verkehrsbereich Umweltschutz und ein höheres Maß an Verkehrssicherheit zu integrieren. Wie in- und ausländische Untersuchungen beweisen, ist die verkehrstechnische Beschränkung der Fahrgeschwindigkeit durch Verkehrszeichen keine wirksame Maßnahme zur dauerhaften Reduktion der Betriebsgeschwindigkeit.“
Ergebnis dieser Verhandlung war, dass in allen Bereichen der Verkehrsplanung und des Straßenbaus eine Reihe von Verkehrsberuhigungsmaßnahmen möglich wurde.

Widerstand  und „Ohrwaschelkommission“

Ab 1986 wurden die ersten baulichen Maßnahmen umgesetzt.  Es wird erzählt, der damalige Bürgermeister Helmut  Zilk hätte ausgesuchte Beamte mit starken Nerven ausgeschickt, um dem Widerstand der Bevölkerung standhalten zu können. 1987 startete ein Großversuch mit „30 km/h Zonen“.  Fünf Zonen wurden realisiert.  Mitte der 1990er Jahre begann man Fahrbahnanhebungen an Straßenbahnhaltestellen zu bauen. Diese ermöglichen einen barrierefreien Einstieg.
Doch der Widerstand ließ nicht nach. Mitte der 1990er Jahre gerieten die „Ohrwascheln“ in die Kritik einer großen österreichischen Tageszeitung. Diese kampagnisierte gegen die Gehsteigvorziehungen und den damaligen Verkehrsstadtrat Hannes Swoboda. Dieser legte schließlich sein Amt zurück.

1994 sollte eine „Fachkommission Verkehr“ zu einer Entemotionalisierung beitragen. Hinter vorgehaltener Hand wurde sie als „Ohrwaschel-Kommission“ bezeichnet – war sie doch hauptsächlich für die Gehsteigvorziehungen zuständig. Ziel des damaligen Stadtrats Svihalek war es, damit den sachlichen Dialog zwischen allen Verkehrsteilnehmenden und zu fördern. An der „Fachkommission Verkehr“ beteiligten sich Verkehrsbehörden und Interessensvertretungen. Sie besteht bis heute.

Siegeszug der Verkehrsberuhigungsmaßnahmen

In Wien sind mittlerweile 90 Prozent der Gehsteige abgesenkt und damit barrierefrei begehbar. In  den letzten  fünf  Jahren wurden an 97 Orten in Wien Fahrbahnaufdoppelungen umgesetzt, in den vergangenen zehn Jahren wurden 339 Gehsteigvorziehungen, sogenannte „Ohrwaschel“, gebaut. All diese Maßnahmen tragen zu Entschleunigung und zu besseren Sichtbeziehungen zwischen Autofahrenden und Zu-Fuß-Gehenden bei.
Immer im Fokus: Die Sicherheit der Fußgängerinnen und Fußgänger und die Steigerung der Lebensqualität in Wien.
Das Team von Wien zu Fuß dankt DI Bernd Skoric, ehem. MA46 und Hans Doppel, ehem. Argus, für ihre Beiträge zu diesem Artikel.

Weitere Infos:

Ziele – Verkehrssicherheitsprogramm 2005 bis 2020

Unfälle mit Personenschaden

Barrierefreie Gehsteige