Macondo: Die ganze Welt auf fünf Hektaren
Am 14.5. lädt Wien zu Fuß zum Geh-Cafè „Verfolgung – Zuflucht – Nachbarschaft“ an einen ganz besonderen Ort: Macondo. Einer der „Schattenorte“ Wiens – mit spannender Geschichte und interessanter Gegenwart. Doch was ist Macondo?
Macondo gibt es nicht. Denn Macondo ist nur ein Name, gewählt von Gabriel García Márquez für den Handlungsort seines Romans „Hundert Jahre Einsamkeit“. Andererseits: Macondo gibt es doch.
Mehrere kaiserlich-königliche Kasernenblöcke groß, dazu ebenerdige Baracken aus den 1970ern, vier Gebäudeeinheiten aus den 1990ern, summa summarum gut 3000 Einwohner und damit knapp im Durchschnitt heimischer Gemeinden. Freilich, Macondo ist keine eigene Gemeinde, es ist ein Teil von Wien, und dennoch existiert es jenseits jeder Wahrnehmbarkeit, ferner jeder Wirklichkeit als García Márquez‘ Romandorf. Das Simmeringer Macondo, so real und unübersehbar es vor einem stehen mag, wird öffentlich behandelt, als sei es Fiktion, weggeschoben, weggedacht, als könnte man es durch beharrliches Ignorieren tatsächlich zum Verschwinden bringen.
1915. Auf Rieden, die bis dahin auf unschuldige Namen wie „Fuchsboden“ hörten, hat eine todwunde Monarchie ihrer k. k. Landwehr ein neues Exerzierquartier errichtet; und weil es sich unweit des Dörfchens Kaiserebersdorf befindet, geht es als Kaiserebersdorfer Landwehr-Artilleriekaserne in die genaueren der hiesigen Geschichtsbücher ein. Die Lage ist strategisch ideal: gerade noch donaumetropolitan, dennoch weit weg von irgendwo, zugleich mit Donau und Donauländebahn truppentransportmäßig bestens angebunden. Es wird der letzte große Kasernenbau einer kaiserlichen Armee auf Wiener Boden sein.
Dem Zusammenbruch des Habsburger-Imperiums schließt sich der für hiesige Objekte dieser Art übliche rasche Hausherrenwechsel an: Auf das Bundesheer der Ersten Republik folgen deutsche Wehrmacht, dann Rote Armee als Quartiernehmer. Und kaum haben die Sowjets 1955 Österreich samt den Kubaturen an der Zinnergasse verlassen, treiben sie ihnen ihre künftige Bestimmung zu: Als die Moskauer Führung im Herbst 1956 den ungarischen Volksaufstand niederschlagen lässt, suchen 200.000 Ungarn in Österreich Zuflucht – und ein paar Tausend von ihnen finden Unterschlupf im Kaiserebersdorfer k. k. Mauerwerk. Wo vordem staatlich sanktionierte Gewaltapparate das Handwerk des Tötens übten, dürfen ab da genau jene Obdach nehmen, die deren fabelhaften Fertigkeiten gerade noch lebendigen Leibs entronnen sind. Unabhängigkeits- und Bürgerkriege in Afrika, die gar nicht mehr zählbaren Metzeleien im Nahen Osten füllen die Wohnungen auf dem ehemaligen Kasernengelände genauso wie die Heere der Warschauer- Pakt-Staaten, die den Prager Frühling 1968 niederwalzen, und drei Golfkriege.
Manche bleiben jahrzehntelang, viele suchen bald andernorts ihr Wohnungsglück. Der freiwerdende Raum wird ohnehin sofort für Neuankömmlinge gebraucht. Bald reicht die vorhandene Bausubstanz nicht mehr aus: Mitte der 1970er schlägt die UNO vier Barackenreihen, jede mit fünf ebenerdigen Wohneinheiten samt Gärtchen, in die Kasernengstätten. Die teilen sich alsbald Chile-Flüchtlinge und Boat People aus Vietnam, die einen rechtem, die anderen linkem Furor eben erst entkommen. Und die Chilenen sind es, die mit García Márquez im Gepäck und dem Namen Macondo anreisen: Macondo als Fluchtpunkt Aus- und Abgesonderter.
García Márquez‘ Macondo fegt ein Sturm hinweg. Von der „Zyklonengewalt“ ist am Ende von „Hundert Jahren Einsamkeit“ zu lesen, die „Türen und Fenster aus den Angeln riss“. Die Zukunft des Macondo von Simmering dagegen: vorerst ungewiss.
Dieser Text wurde dem Buch „Zu den Schattenorten von Wien“ von Wolfgang Freitag entnommen. Erschienen im Metroverlag
Über den Autor: www.wolfgangfreitag.com
Geh-Cafè „Macondo: Verfolgung – Zuflucht – Nachbarschaft“
Wann: Mittwoch, 14.5.2014, 16:00 Uhr
Wo: Artillerieplatz 1, 1110 Wien
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