Nur der Krampus ist dunkel
Im Winter wird es früh dunkel, die Sicht ist schlecht, und hektisch geht es auch noch zu. Da können Fußgänger schnell „übersehen“ werden.
So sicher wie der Advent kommt daher der gut gemeinte Rat, als FußgängerIn doch bitte etwas Helles, Reflektierendes anzuziehen, damit man nicht überfahren wird. Das ist so einleuchtend wie einfach umzusetzen. Aber die Sache hat einen Haken:
Sie lenkt von der eigentlichen Gefahr ab. Die geht nicht von PassantInnen aus und schon gar nicht von dunkler Kleidung. Gefährlich sind Fahrzeuge, die für die Sichtverhältnisse zu schnell unterwegs sind. Wer nicht auf Sicht fährt, nimmt in Kauf, Menschen zu gefährden oder gar zu töten. „Fußgänger wurde übersehen“ ist eine diplomatische Formulierung in Polizeimeldungen. Sie soll Schuldzuweisungen vermeiden und möglichst niemandem wehtun. Aber sie führt zwangsläufig zur Frage „Warum hat er/sie sich auch nicht sichtbarer gemacht?“
Zwischen 1. Jänner und 16. Dezember 2019 sind österreichweit 58 FußgängerInnen im Straßenverkehr ums Leben gekommen, in zwei Drittel der Fälle vollkommen unverschuldet. Das sind um 17 Prozent mehr Todesfälle als im gesamten Jahr 2018. Wie wird in der Öffentlichkeit auf diese tragischen Unfälle reagiert? Leider viel zu oft mit „Victim blaming“.
„Victim blaming“ bedeutet Opferbeschuldigung. Das funktioniert immer und ist bequem für jene, die von bestehenden Verhältnissen profitieren. Es ist ein Mechanismus, der vom eigentlichen Problem ablenkt. Genauso wenig, wie ein freizügiger Minirock zu Vergewaltigungen führt (sondern männliche Aggression), führt dunkle Kleidung per se nicht zu Unfällen (sondern unangepasste Fahrgeschwindigkeit und Unaufmerksamkeit).
In Wien ereignen sich tödliche Fußgängerunfälle zum größten Teil in Tempo-50-Zonen. Während überhöhte Geschwindigkeiten und abgelenkte Autofahrende schwere Unfälle riskieren, spricht man in der Öffentlichkeit scheinbar ausschließlich über zu dunkel gekleidete, vom Handy abgelenkte FußgängerInnen. Das kann man zwar thematisieren, allerdings ist eine Debatte über die Verhältnismäßigkeit der Unfallursachen dringend notwendig.
Und darüber, ob wir wirklich ein Verkehrssystem haben wollen, bei dem selbst das Zu-Fuß-Gehen einer besonderen Ausrüstung bedarf – etwa Reflektoren, Beleuchtung, helle Kleidungsstücke.
Ein konstruktiver Zugang wäre vielmehr:
Endlich akzeptieren, dass Menschen Fehler machen. Die Straßenverhältnisse so gestalten, dass menschliche Fehler nicht zu schweren Unfällen führen. Gute Sichtverhältnisse bei niedrigen Geschwindigkeitsniveaus und eine Straßengestaltung, die nicht zum Rasen einlädt, tragen mehr zur Sicherheit bei als gut gemeinte Kleidungsvorschriften.
Und ganz gleich, wie man gekleidet ist – ob dunkel wie der Krampus oder leuchtend wie das Christkind: Im Straßenverkehr auf sich selbst und andere achten, gilt immer.
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