Vom Nicht-Geher zum Schrittesammler: Gerhard, 56 Jahre
Gerhard plant demnächst den Wiener rundumadum-Wanderweg (120 km) in 24 Stunden zu gehen. Dabei hat der 56-Jährige erst vor Kurzem das Zu-Fuß-Gehen für sich entdeckt. Was den leidenschaftlichen Pfadfinder zum Gehen gebracht hat und wie er die 120-km-Rundtour anlegen will, verrät er im Interview.
Welchen Stellenwert hat Zu-Fuß-Gehen für dich im Alltag?
Mit dem ersten Lockdown hat sich der Stellenwert für mich gewaltig verändert. Ich bin früher alles mit dem Auto gefahren – auch den Arbeitsweg von einer Viertelstunde durch die inneren Bezirke. Firmenparkplatz gab’s auch, also ich hab mich kaum bewegt. Dann habe ich den Parkplatz verloren und bin eine Zeit lang öffentlich gefahren. Und dann kam eben der Lockdown. Am Anfang wusste man ja auch nicht, wie gefährlich das ist. Irgendwann hat meine Frau gemeint, dass sie so und so viele tausend Schritte gegangen ist. – „Wieso weißt du das?“ – „Das zeigt die Wien zu Fuß-App an.“ Die habe ich dann heruntergeladen und mir gedacht: „Schau ma mal, was zusammenkommt.“
Seit dem Lockdown im Frühjahr gehe ich so gut wie alles zu Fuß. Tägliche Einkäufe nehme ich einfach am Weg mit. Am Wochenende ist klar, dass ich nicht zu Fuß ins Waldviertel oder ins Burgenland gehen kann. Aber in Wien bin ich seither nur zweimal öffentlich gefahren, sonst habe ich alles zu Fuß gemacht. Der Weg in die Arbeit sind knapp 6.000 Schritte in einer Richtung. An Arbeitstagen sind also 12.000 Schritte mein Minimum, ohne mich irgendwo sonst noch zu bewegen.
Nutzt du die Wien zu Fuß-App auch weiterhin?
Als ich gesehen habe, dass man sich mit anderen in der App im Highscore matchen kann, wollte ich das ausprobieren. Am Anfang war meine Frau auch noch begeistert, weil sie ja auch schon länger dabei war. Ihren Vorsprung hat sie aber schnell eingebüßt. Am Anfang habe ich im Schnitt 25.000 Schritte am Tag geschafft.
Während des Lockdowns im Frühjahr sind wir am Wochenende auch sehr viel spazieren gegangen. Unsere längste Strecke damals war der Liesingweg von Alterlaa bis fast nach Schwechat. Wir sind von zuhause nach Alterlaa gegangen, dann die ganze Liesing entlang und von dort wieder nachhause. Das waren 27 km an einem Tag, von 11 Uhr bis 7 Uhr am Abend. Da sieht man entsprechende Fortschritte im eigenen Highscore. Das hat mich dann schon motiviert, hier noch aktiver zu werden.
Dabei habe ich auch gemerkt, dass ich körperlich viel mehr aushalte. Mit meinen 5 Millionen Schritten habe ich auch 5 Kilo verloren. Das tut mir körperlich auch gut und ich fühle mich viel fitter. Das ist auch der Grund, warum ich weitermachen möchte. Nicht um 1. im Highscore von Wien zu werden. Aber ich möchte mich auf diese Art körperlich fit halten. Beim Zu-Fuß-Gehen kann man sich draußen bewegen und dabei auch etwas sehen.
Bist du täglich im Büro?
In den letzten Wochen war es so, dass ich nur jede zweite Woche ins Büro kommen durfte, damit es ein Backup gibt, falls in einem Team ein Corona-Fall auftritt. Das hat natürlich den Nachteil, dass ich mich zuhause fast nicht bewege. Ich versuche aber schon, untertags etwas zu tun. Ich komme aber auf einen geringen Schnitt von knapp 10.000 Schritten. Ich zwinge mich halt jeden Tag einkaufen zu gehen und nicht alles auf einmal mitzunehmen, damit ein bisschen Bewegung auch da ist.
Du hast vorhin davon gesprochen, dass man beim Zu-Fuß-Gehen etwas sehen kann. Hast du ein Beispiel dafür?
Am Wochenende fahren wir meist ins Grüne raus oder in unseren Garten am Kahlenberg. Bei Spaziergängen und Wanderungen im Wiener Wald kann man z.B. einen Hirschkäfer, eine Blindschleiche, eine Blume oder einen umgestürzten Baum sehen. Das ist zwar nur kurzfristig ein Erfolgserlebnis, aber es ist sicher interessanter als zuhause zu sitzen und fernzuschauen.
Kann man in der Stadt auch etwas entdecken?
Ich bin heute durch den Burggarten gekommen, das ist mein täglicher Arbeitsweg. Und da kommen mir vier Lipizzaner entgegen. Jeden Tag werden vier Lipizzaner zum Grasen in den Burggarten geführt, und die sind mir heute entgegengekommen. Die waren einen halben Meter neben mir, gleich vier Stück auf einmal.
Sonst sieht man in der Stadt auch sehr viel, wenn man mit offenen Augen durch die Stadt geht. Ob das jetzt am Abend die Fledermäuse sind, die herumfliegen – die meisten Leute wissen gar nicht, dass es Fledermäuse in der Stadt gibt – oder irgendwo einen Falken, der herumkreist. Also man sieht auch in der Stadt genügend Natur, wenn man möchte. Ich gehe aber schon immer mit offenen Augen durch die Welt. So grüßt mich z.B. der Straßenkehrer, den ich jeden Tag auf der Kärntner Straße sehe, schon. Das sind halt die kleinen Freuden, die beim Gehen passieren.
Hast du Lieblingsorte in Wien?
Ich bin gern dort, wo es grün ist oder in der Nähe von einem Gewässer. Innerhalb der Stadtgrenzen ist das schwer. Da nutze ich dann eher das Wochenende zum Rausfahren. Aber letztens sind wir an der Donau entlang gegangen zum Nußdorfer Spitz. Bei einem Kleingartenverein hat ein Fischer gerade Äste weggetragen und ich frage: „Wo schmeißen sie die hin?“ – „Die schmeiß ich dem Biber hin.“ Da gibt’s direkt an der Donau einen Biberbau, und der Biber frisst die Bäume ab, wenn man ihm nichts hinlegt. Ich bin überzeugt, das wissen in ganz Wien vielleicht 50 Leute und von denen wohnen 40 dort. Das ist schon auch nett, wenn man solche Sachen sieht. Wir haben den Biber zwar noch nicht gesehen, aber wir gehen halt immer wieder dort vorbei und irgendwann sehen wir ihn hoffentlich.
Du hast mir erzählt, dass du den rundumadum-Weg in 24 Stunden gehen willst. Hast du schon einen konkreten Plan?
Der Weg ist in 24 Etappen geteilt. Und der eigentlich Plan wäre, glaube ich, dass man 1-2 Etappen pro Tag macht und dann irgendwann Wien umrundet. Meine Tochter hat vor ein paar Wochen mit einer Freundin beschlossen, dass sie die 120 km in einem Tag gehen und das auch gleich gemacht. Dass sie das nicht schaffen können, war mir klar, weil sie aus dem Stand gegangen sind. Aber ich bin ganz stolz, weil sie innerhalb von 26 Stunden immerhin 58 km geschafft haben.
Für mich habe ich folgende Pläne: Die 120 km wären innerhalb von 24 Stunden ein Schnitt von 5 km/h. Wenn ich normal gehe, gehe ich mit 6 km/h – und das kann ich auch vier Stunden am Stück. Wenn ich ein bisschen langsamer gehe, müsste es sich eigentlich ausgehen, dass ich diesen Wanderweg in 24 Stunden schaffe. Ich werde außerdem anders als meine Tochter gehen. Sie ist im Süden von Wien gestartet und gegen den Uhrzeigersinn gegangen. Ich werde zwar auch gegen den Uhrzeigersinn gehen, aber ich werde im Norden in Nußdorf starten und als erstes den Nasenweg machen. Ich möchte es probieren, bin mir ziemlich sicher, dass ich das nicht schaffen werde – zumindest nicht beim ersten Mal. Aber ich will das irgendwann schaffen. Herausforderungen sind da, um sie anzunehmen.
Wie war das eigentlich früher, als du noch Auto gefahren bist?
Dadurch dass ich quasi alles mit dem Auto gefahren bin, habe ich nur wenige Schritte zurücklegt. Ich seh auch jetzt im Home-Office, dass ich mir Mühe geben muss, um auf 10.000 Schritte zu kommen. Mich hat das Gehen aber gewaltig verändert. Ich merke es an meiner körperlichen Fitness. Das ist auch für mich die meiste Motivation weiter zu gehen, weil ich mein großes Ziel erreichen möchte, weitere 6 Kilo abzunehmen – und das mit wenig Aufwand. Ich finde, Zu-Fuß-Gehen ist der geringste Aufwand, dem man dem Körper „antun“ kann – also „antun“ im positiven Sinn. Ich trainiere nicht eine spezielle Muskelmaske, sondern ich bewege im Prinzip den ganzen Körper gleichermaßen. Schauen wir mal, ob ich’s zusammenkriegen werde. Wenn’s nichts ist, ist’s auch nicht schlimm. Aber ich habe ein Ziel, auf das ich hingehe.