Über das Leben am Gehsteig

Wenn Sie an Schanigärten in Wien, Rom und Paris denken, welche Unterschiede fallen Ihnen spontan ein? Warum die Sessel dort anders stehen und was das mit dem Straßenraum zu tun hat, hat uns der Fußgänger und Stadtforscher Eugene Quinn erklärt.

Gehsteig als Laufsteg

Sehen und gesehen werden ist das Motto bei jenen Gastgärten, deren Sessel bei Tisch nicht zueinander gedreht sind, sondern in Blickrichtung Straße und Gehsteig ausgerichtet ist. Während diese Anordnung in Wien eher selten anzutreffen ist, ist sie in italienischen Städten oder in Paris weit häufiger. So wird der angrenzende Gehweg automatisch zum Laufsteg für all jene, die daran vorbeigehen. Ob sich das auch auf die Art, wie Fußgänger:innen unterwegs sind, auswirkt, soll jede:r selbst beurteilen. Für Eugene Quinn ist der Unterschied auf jeden Fall deutlich. In südeuropäischen Ländern sieht er mehr Style auf der Straße.

Lokal in Paris, bei dem die Sessel im Schanigarten alle Richtung Straße ausgerichtet sind

Gastgarten in einem Pariser Lokal (© Alex Harmuth/Unsplash)

Typisch ist das tägliche Promenieren in einer zentralen verkehrsberuhigten Straße auch in vielen Städten Albaniens – auch wenn hier die Sessel eher in typischen Wiener Anordnung in den Schanigärten stehen, wurlt es in den Fußgängerzonen von Berat, Tirana und Gjirokastër jeden Abend. Herausgeputzte Einheimische treffen sich hier zum Xhiro, dem Auf- und Abflanieren, wie auf einem Laufsteg.

Lebendige Straßen und Viertel

„Street Capital“

„Street Capital“ nennt Eugene Quinn seine Theorie dazu, wie belebt, lustvoll und bespielt eine Straße ist. Je mehr Gewurle, Flanieren und Interaktionen, desto höher ist das jeweilige Street Capital. So würden zum Beispiel die Fußgängerzone in Berat oder der Brunnenmarkt in Wien gut abschneiden. Schlecht schneiden hingegen zugeparkte, menschenleere Straßen ab.

Auf den Wiener Märkten kommt’s zu mehr Kreativität unterwegs – nicht nur beim Gustieren und Schauen, sondern auch beim Durchgehen zwischen den Marktständen. Das ist es, was Eugene Quinn auf der Wiener Gehsteigen sonst oft vermisst: „Als ich von London nach Wien gekommen bin, war ich total irritiert, dass am Gehsteig hier alle auf der rechten Seite gehen und einander daher mit wenig Interaktion passieren können. In London gibt es diese ungeschriebenen Regeln nicht. Hier führt man mit jeder entgegenkommenden Person ein Tänzchen auf, wer nach links oder rechts ausweicht. Damit gibt’s automatisch mehr Interaktionen, die beim Wiener System einfach wegfallen.“

Gemüsestände am Yppenplatz

Yppenplatz/Brunnenmarkt (© PID/Christian Fürthner)

„Walkscore“

Wer auf ganz Wien blickt, merkt schnell, dass manche Viertel lebendiger sind als andere. Oft hängt das auch mit der Lage in der Stadt zusammen. Große Einfallstraßen am Stadtrand laden weniger zum Zu-Fuß-Gehen ein. Damit einher geht oft auch, dass die Stadt der kurzen Wege, in der alles zu Fuß erreichbar ist, zur Utopie wird. Wie gut ein Grätzl im Bezug auf Fußgängerfreundlichkeit abschneidet, misst auch die Webseite walkscore.com. „Diese Ergebnisse von walkscore.com haben Auswirkungen auf die Immobilienpreise in den USA. Jeder zusätzliche Punkt steigert den Wert der Wohnung und erhöht den Kauf- und Mietpreis“, erzählt Eugene Quinn.

Eine Woche lang gemeinsam gehen

Wer gemeinsam mit Eugene Quinn gehen will, kann das z.B. im Rahmen der „Vienna Walking Week“ tun. Sie startet am 30. Juli und bietet Rundgänge zu Otto Wagner, Falco, Rassismus in Wien oder den Brexit. Das genaue Programm findest du bei whoosh.wien. Auch wenn sich keiner der gemeinsamen Termine für Sie ausgehen sollte, wollen Sie sich vielleicht den 3. August rot im Kalender anstreichen: Dann ist im Rahmen der „Vienna Walking Week“ der #WalkToWorkDay – eine schöne Möglichkeit, das Zu-Fuß-Gehen im Alltag auf kreative Weise zu zelebrieren.

Eugene Quinn im Gespräch mit Teilnehmerinnen am Geh-Café am Donaukanal

Eugene Quinn im Gespräch mit Teilnehmerinnen am Geh-Café am Donaukanal (© Christian Fürthner)