Zwei Klappstühle von Grätzlsitz am Elisabethplatz

Erik hat eine mobile Tankstelle für Fußgänger:innen, den Grätzlsitz

Stellen Sie sich vor, dass Sie sich zum Jausnen mit einer Freundin unterwegs hinsetzen wollen. Meist sind dann nur jene Sitzbänke frei, die in der prallen Sonne stehen oder von wo aus Sie nur auf die nahe Hausmauer blicken können. Mit dem Grätzlsitz gibt’s eine flexible Lösung zum Sitzen. Wir haben den Initiator Erik Czejka zum Gespräch über das Verleihservice getroffen.

Erik hat Architektur in Innsbruck und Peking studiert. Sein beruflicher Fokus liegt auf der Kommunikation von Architektur. Denn er begreift die Rolle von Architekt:innen so, dass sie Menschen Objekte zur Verfügung stellen, die sich diese aneignen können – von einer Wohnung über einen Tisch bis hin zum Stuhl. So versteht er auch das Projekt Grätzlsitz, dessen Idee in der Corona-Krise entstanden ist.

Erik Czejka auf einem Grätzlsitz sitzend

Erik Czejka am Elisabethplatz (© Sainte Vienne)

Was ist Grätzlsitz?

Es ist einfach ein Verleihservice für mobile Stühle im öffentlichen Raum. Ich verstehe diese mobilen Stühle als Werkzeug, das man den Menschen zur Verfügung stellt. Wer sich nämlich mit fixen Stadtmöbeln auseinander setzt, merkt schnell, was diese auszeichnet: ein fixer Standort, eine fixe Blickrichtung, meist irgendwo am Rand. Und wenn man die klassische Sitzbank betrachtet, passen 3-4 Leute nebeneinander drauf, was nicht sehr kommunikativ ist. Da ist Grätzlsitz deutlich flexibler, und das System ist auch konsumfrei. Für mich könnte das die nächste Generation von Stadtmöbeln sein.

Das Projekt ist im Lockdown entstanden. Mit den damaligen Coronaregeln haben viele Leute gesehen, dass unser Straßenraum zum Großteil den Autos gehört. Das weiß ich zwar als Fachperson, aber viele Leute hatten sich in ihrem Alltag bisher nicht mit Gehsteigbreiten befasst. Und plötzlich war’s nicht möglich, zwei Meter Abstand einhalten zu können. Als die Wirtschaftsagentur dann gefragt hat, was man aus der Krise lernen kann, ist die Idee für Grätzlsitz entstanden. Und die Idee wurde auch von der Wirtschaftsagentur mit dem Creatives for Vienna Preis ausgezeichnet worden. Und dann haben wir uns überlegt, okay wir probieren das einmal aus. Möglich wurde das durch die Lokale Agenda Wieden, und unser erster Standort ist am Elisabethplatz. Dort übernimmt das Lokal Obsthunger die Stationsfunktion. Also man geht hin, borgt sich einen oder mehrere Stühle aus, nutzt sie und bringt sie dann dorthin wieder zurück.

Jede:r kann Grätzlsitz nutzen

Es ist also ein Verleihservice, das sich an Privatpersonen richtet?

Ja, Grätzlsitz richtet sich an jede Person, die den öffentlichen Raum benutzt. Neben dem Elisabethplatz haben wir seit 2022 auch einen zweiten Standort. Das Café Jelinek betreut den Verleih für den Standort in der Königseggasse in Mariahilf. Auch dort gibt es sechs Stühle. Zusätzlich arbeite ich in der Zwischenzeit an einem Prototyp, der als Verleihstation im öffentlich zugänglichen Raum stehen kann, also ohne dass es einen lokalen Partner braucht. Es soll ein stationsfixiertes System werden, bei dem man sich anmelden und verifizieren kann und dann dort einen Stuhl entlehnt. Aber bisher läuft das über unsere lokalen Partner.

Drei Personen mit Grätzlsitz-Stühlen

© Sainte Vienne

Wie läuft so ein Entlehnvorgang ab? Geh ich einfach hin und sage, dass ich einen Sessel haben will und setze mich irgendwo hin? 

Ja, genau. Du hinterlegt beim Entlehnvorgang einen Ausweis oder € 5,-. Wir haben mit dem Grätzlsitz im kleinen Rahmen gestartet und gesehen, dass es funktioniert und die Stühle nicht einfach wegkommen. Somit funktioniert das Projekt auch auf einer gemeinschaftlichen Ebene. Die meisten Personen sind mindestens zu zweit, wenn sie sich einen Grätzlsitz ausborgen. Und wir lassen den Nutzer:innen viele Freiheiten im Bezug auf Dauer und Ort, aber die Stühle werden am ehestens im Umkreis von 200 Metern rund um die Verleihstation genutzt. Zum Beispiel in der Mittagspause. Oder es gibt im Stammpublikum auch eine Oma, die auf ihren Enkel aufpasst, und die sich in der Nähe des Spielplatzes setzt. Und dort ist der Grätzlsitz praktischer, hat sie gesagt, weil meistens die Spielplätze super sind, aber es nur am Rand Sitzmöglichkeiten gibt. Und mit dem Stuhl kann man mitgehen, nicht nur von einem Spielgerät zum anderen, sondern auch mit dem Schatten zum Beispiel. Also der Grätzlsitz ist eigentlich auch die smarte Parkbank, die mobilere Version oder die Version 2.0.

„Sitzen ist die Tankstelle der Zu-Fuß-Gehenden“

Was mir wichtig ist zu betonen: Warum reden wir übers Sitzen, wenn’s bei Wien zu Fuß eigentlich das Zu-Fuß-Gehen im Fokus steht. Die Stadtsoziologin Renate Albrecher hat auf einer der letzten walk-space-Konferenzen gesagt, dass das Sitzen die Tankstelle der Zu-Fuß-Gehenden ist. Und da gebe ich ihr absolut recht. Wenn ich unterwegs bin, wundere ich mich oft bei fixen Bänken über den jeweiligen Aufstellplatz. Wer setzt sich dort hin, wenn man direkt auf eine Reihe parkenden Autos sind und es vielleicht auch keinen Baum in der Nähe gibt? Ich verstehe natürlich, dass ältere Leute, die eine gewisse Distanz nicht mehr zurücklegen können, eine passende Verweilmöglichkeit brauchen. Ich möchte aber, dass das Sitzen an sich wichtiger wird. Wenn wir das Klimaziel erreichen wollen, braucht es eine Umwälzung im öffentlichen Raum weg vom Auto. Die Diskussion, welche Stadt wir haben wollen, sollten wir führen und deswegen braucht’s auch mobile Konzepte wie Grätzloasen oder den Grätzlsitz. Also eigentlich ist in Fußgängerzonen oder Begegnungszonen ein mobiles Konzept viel besser, weil man dann nicht nur am Rand fixe Sitzmöglichkeiten hat. Und das ist auch viel flächeneffizienter, weil es nicht fix installiert ist und eine Fläche durchgängig starr blockiert.

Du hast zwei Themen rund um den Grätzlsitz angesprochen: Das eine war die Tankstelle. Das klang nach einem Platz zum Ausrasten allein. Davor hast du von Kommunikation gesprochen. Kann der Grätzlsitz beides?

Natürlich kann er beides. Was macht man beim Sitzen? Für dieses Interview haben wir uns hingesetzt, um miteinander zu reden. Man setzt sich hin, um zu rasten. Man setzt sich hin, um irgendwo hinzuschauen. Also es gibt mehrere Funktionen. Und der Grätzlsitz bedient diese Funktionen. Dazu kann ich dir eine schöne Geschichte erzählen. Die Grätzlsitz-Stühle sind immer sehr bunt, weil ich ein bisschen Farbe in den monotonen öffentlichen Raum reinbringen will. Und die erste Garnitur ist gelb und türkis. Und ein Kind hat diesen gelben Stuhl dann gesehen und gesagt: „Oh mein Gott, das ist so ein schöner Stuhl!“ Als das Kind dann am Elisabethplatz Geburtstag gefeiert hat, war der gelbe Stuhl der Geburtstagsthron.

Neue Outdoor-Kultur für Wien

Mir ist natürlich absolut bewusst, dass wir in einer Stadt leben, die erst in den letzten Jahren eine Outdoor-Kultur zu entwickeln beginnt. Jeder schwärmt immer von so südlichen Städten, dass es ja so nett ist, draußen zu sitzen oder so. Und natürlich ist das Projekt „Grätzlsitz“ auch dazu da, dass man mehr im öffentlichen Raum ist, dass es eigentlich eine Erweiterung vom eigenen Wohnzimmer ist.

Zwei Personen auf zwei Grätzlsitz-Stühlen sitzend

© Sainte Vienne

Wir sind weltweit in der Entwicklung, dass sich die Städte verändern – Superblocks in Barcelona oder das Supergrätzl in Wien. Dafür braucht es eine gewisse Infrastruktur – nicht nur fürs Fahrrad, sondern auch für Fußgänger:innen. Also wir müssen auch an Sitzmöglichkeiten und Spielplätze denken. Ein Beispiel aus Kopenhagen, wo ich letztes war: Dort haben sie einfach sechs große Schaukeln aufgestellt, also nicht auf einem Spielplatz, sondern einfach so. Und ich bin dann auch ein bisschen dort gesessen und hab mir angeschaut, wer das nutzt. Das waren Leute, die aus meiner Sicht nie auf einen Spielplatz gehen würden, um dort zu schaukeln, weil der Spielplatz nur ein Ort mit Kindern ist. Da war zum Beispiel ein älteres Ehepaar, dann waren Jugendliche, die haben wahrscheinlich Videos für Instagram oder TikTok gemacht. Und dann waren andere, die haben dort gegessen und währenddessen geschaukelt. Wir müssen viel mehr über den öffentlichen Raum nachdenken und darüber, wie wir dort leben wollen.

Aktuell gibt es zwei Grätzlsitz-Standorte in Wien, und du arbeitest an dem Prototypen für eine Verleihbox. Welche konkreten Zukunftspläne gibt’s für den Grätzlsitz? 

Im nächsten Schritt werden wir den Prototypen für die Verleihbox aufstellen und testen. Das ist vermutlich ab Juni soweit, dann unter dem neuen Namen Zuko, weil man im öffentlichen Raum ZUsammenKOmmt. Der große Wunsch ist natürlich, dass es den Grätzlsitz flächendeckend in jedem europäischen urbanem Zentrum gibt. Der Prototyp ist prinzipiell offen für alle, die öffentliche Flächen haben – vom Museumquartier bis Immobilienentwicklern. Mal schauen, wo die Reise hingeht.

 

Update Juli 2023: Der Grätzlsitz heißt jetzt „ZuKo“, kurz für Zusammen kommen. Und der Prototyp einer Verleihstation ist nun im 6. Bezirk im Richard-Waldemar-Park zu testen. Unter zuko.city finden Sie alle Details. Sie finden ZuKo auch auf Facebook und Instagram