Stadtspaziergang: jüdisches Wien
Kaum eine Stadt Europas verfügt über eine solch enge Verknüpfung zwischen der Geschichte ihrer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger und dem Aufstieg zu einer Metropole des Geistes, der Wissenschaft und der Künste wie Wien. Bis 1938 hatte Wien eine aktive jüdische Gemeinde mit Dutzenden Synagogen und Bethäusern. Der schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit verbreitete Antisemitismus wurde die Basis für Rassenwahn und Terror der Nazis. Unmittelbar nach der Besetzung Österreichs durch die deutsche Wehrmacht im März 1938 wurde er zum Grundgedanken der neuen politischen Führung. 140.000 Österreicherinnen und Österreicher mussten demzufolge aus rassischen Gründen flüchten. 65.000 Menschen, denen eine Flucht nicht mehr möglich war, wurden ermordet.
Seit wenigen Jahren ist jüdisches Alltagsleben wieder im Straßenbild Wiens zu sehen. Vor allem im 2. Wiener Gemeindebezirk, der auch jüdische Schulen und Sozialeinrichtungen beheimatet, gibt es mittlerweile eine wachsende jüdische Gemeinde und eine reichhaltige jüdische Infrastruktur.
Der Stadtspaziergang durch das jüdische Wien führt vorbei an wichtigsten Erinnerungsstätten der jüdischen Gemeinde in den inneren Bezirken: vom Stadttempel der Israelitischen Kultusgemeinde zum Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, weiter zum Jewish Welcome Service und schließlich zum jüdischen Museum und dem Shoa-Mahnmal am Judenplatz. Die nächsten Stationen sind das Arnold-Schönberg-Center und das psycho-soziale Zentrum ESRA. Den Abschluss des Spaziergangs stellt ein Besuch im Sigmund Freund Museum im 9. Bezirk dar, das im Geburtshaus des berühmten jüdischen Psychologen/Wissenschaftlers eingerichtet ist.
Die reine Gehzeit des Spaziergangs beträgt rund eineinhalb Stunden – natürlich lohnt es sich aber, bei den Stationen zu verweilen und die geschichtsträchtigen Orte wirken zu lassen. Für motivierte SpaziergängerInnen bietet sich natürlich auch noch ein Abstecher zum alten jüdischen Friedhof am Wiener Zentralfriedhof an – einer der größten jüdischen Friedhöfe Mitteleuropas.
Stadttempel der Israelitischen Kultusgemeinde
Start des Spaziergangs ist der Stadttempel der Israelitischen Kultusgemeinde im ersten Bezirk. Der 1826 eröffnete Tempel blieb der Gemeinde nur kurz erhalten: während des zweiten Weltkriegs wurde dieser zweckentfremdet für Lagerangelegenheiten benützt, bis er in den letzten Monaten des Kriegsgeschehens im März 1945 von einer Kettenbombe getroffen wurde. Dabei starben 67 Personen.
1963 wurde der Stadttempel vom Architekten Otto Niedermoser renoviert und neu geweiht. Der Sitz der Israelitischen Kultusgemeinde befindet sich ebenfalls in der Seitenstettengasse 4.
Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW)
Schon in den 1930er Jahren entwickelt sich aus der religiösen und politischen Form des Antisemitismus schleichend eine rassische Form. Mit dem Einmarsch der Hitler-Truppen im März 1938 beginnt für die Wiener Juden ein Leidensweg ohne absehbares Ende. Im Zuge ernsthafter Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung werden jüdische Bürgerinnen und Bürger in aller Öffentlichkeit misshandelt und zu den erniedrigendsten Arbeiten gezwungen. Im Novemberpogrom - in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 - brennen unzählige Synagogen und Bethäuser, jüdische Geschäfte werden geplündert und völlig zerstört. Die von Adolf Hitler angeordnete "spontane Entladung des Volkszornes" beginnt voll durchzugreifen. Mit Ausnahme des Stadttempels in der Seitenstettengasse werden sämtliche jüdische Einrichtungen zerstört oder beschädigt. Hitlers Rassenwahn gipfelt erstmals in den Nürnberger Gesetzen, die der jüdischen Bevölkerung so gut wie alles verbieten und entreißen. Juden müssen ab sofort den gelben Stern tragen. Viele jüdische Geschäfte werden enteignet ("Arisierung") und Gotteshäuser dem Erdboden gleichgemacht. Jüdinnen und Juden werden getreten und geprügelt, es gibt zahlreiche Todesopfer.
Die Aufarbeitung eines der größten Verbrechens in der Geschichte Österreichs dauerte Jahrzehnte und ist teilweise bis heute nicht abgeschlossen. Mit Beginn der achtziger Jahre unternahm Wien verstärkte Anstrengungen, sich der Geschichte auch mit allen Schattenseiten zu stellen und das jüdische Erbe in dieser Weise aufzuarbeiten. In diesem Zusammenhang entstand auch das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, das ebenfalls der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit dienen soll.
Jewish Welcome Service
Das von Leon Zelman begründete Jewish Welcome Service hat seit Beginn der 1980er Jahre tausende vertriebene, ehemalige jüdische Bürgerinnen und Bürger Wiens in ihrer Heimatstadt begrüßt. Es dient der Information über das jüdische Wien und der Ermöglichung von Besuchsaufenthalten vertriebener Juden. 2009 ist das Jewish Welcome Service vom Stephansplatz auf den Judenplatz übersiedelt. Neben Büroräumlichkeiten verfügt das Jewish Welcome Service über ein eigenes Informationsbüro, welches im dortigen Misrachi Haus untergebracht ist. Mit dieser zentralen Serviceeinrichtung soll jüdischen Wien-Besuchern die Schwellenangst vor einem Wien-Besuch genommen werden. Der Infopoint des Jewish Welcome Service ist von Sonntag bis Donnerstag von 10 bis 18 Uhr und Freitag von 10 bis 14 Uhr geöffnet.
Judenplatz
Neben dem Jüdischen Museum gilt der Judenplatz mit dem Museum auf dem Judenplatz und dem Shoa-Mahnmal der Künstlerin Rachel Whiteread als zentraler Ort der jüdischen Erinnerung in Wien. Auf Initiative Simon Wiesenthals wurde das Mahnmal für die 65.000 österreichisch-jüdischen Opfer der Shoa am 25. Oktober 2000 enthüllt. Es ist ein Stahlbetonkubus, dessen Außenflächen als nach außen gewendete Bibliothekswände durchmodelliert sind. Auf Bodenfriesen rund um das Mahnmal sind die Namen jener Orte festgehalten, an denen österreichische Juden während der NS-Herrschaft zu Tode kamen. Das Mahnmal steht in engem Konnex mit dem Informationsbereich zur Schoa, der vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes im Erdgeschoß des Misrachi-Hauses eingerichtet wurde. Hier werden Namen und Daten der 65.000 Juden und die Umstände, die zu ihrer Verfolgung und Ermordung geführt haben, dokumentiert. Wien verfügt nun über einen in Europa einzigartigen Ort der Erinnerung: Er vereint Rachel Whitereads Mahnmal mit den Ausgrabungen der mittelalterlichen Synagoge und einem Museum zum mittelalterlichen Judentum zu einer Einheit des Gedenkens.
Ein weiteres Mahnmal gegen Krieg und Faschismus befindet sich unweit des Judenplatzes, ebenfalls im 1. Bezirk, auf dem Albertinaplatz. Der "Straßenwaschende Jude" des Bildhauers Alfred Hrdlicka ist ein eindringliches Zeichen gegen die zerstörerische Kraft des Rassismus einst und jetzt und wurde an jenem Ort errichtet, an welchem ein gesamter Häuserblock durch Fliegerbomben zerstört wurde.
Jüdisches Museum Wien
Das Jüdische Museum Wien präsentiert sich als offenes Haus, ein Ort der Auseinandersetzung mit der jüdischen Geschichte, Religion und Kultur, mit Gedenken und Erinnern, mit Wien und der Welt, vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Es überrascht mit neuen Sichtweisen auf das Judentum und lädt Menschen aller Kulturen und Generationen zum Dialog ein, ermutigt Fragen zu stellen und am kreativen Prozess teilzunehmen.
Im Schaudepot des Museums werden die Sammlungen vorgestellt und in einen historischen Zusammenhang gestellt - mit den Orten, aus denen die Objekte stammen, den Synagogen oder den Sammlern wie etwa Max Berger oder Martin Schlaff. Das Atelier des Jüdischen Museums ist nicht nur eine Werkstatt, sondern auch Ausstellungsraum. Die Rituale in einem jüdischen Leben werden hier anhand von Museums-, aber auch Alltagsobjekten dargestellt.
Arnold-Schönberg-Center
Arnold Schönberg gilt als einer der bedeutendsten österreichischen Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts und als zentrale Figur der sogenannten „Zweiten Wiener Schule. Schönbergs jüdischer Hintergrund brachte ihn im Jahr 1933 dazu, in die USA zu emigrieren, wo er schließlich auch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft annahm.
Arnold Schönbergs Nachlass blieb nach seinem Tod im Jahr 1951 im Besitz seiner Familie und wurde bis 1964 von seiner Witwe Gertrud Schoenberg verwaltet. In den Siebziger Jahren entschlossen sich seine Erben, die Sammlung dem 1973 gegründeten Arnold Schoenberg Institute an der University of Southern California in Los Angeles zur Verfügung zu stellen. Aufgrund anhaltender Streitigkeiten hinsichtlich der Erbschaft(-sverwaltung) wurde in den 1990er Jahren eine neue Heimstätte für den Nachlass gesucht: schließlich konnte sich Wien als Geburtsstadt Schönbergs durchsetzen. Anfang 1997 wurde die Arnold Schönberg Center Privatstiftung von der Gemeinde Wien und der Internationalen Schönberg Gesellschaft gegründet. Der Zweck der Stiftung umfasst die Etablierung des Arnold Schönberg-Nachlasses und dessen Erhaltung und Pflege, die Aufklärung der Allgemeinheit in Hinblick auf Schönbergs interdisziplinären, künstlerischen Einfluss sowie die Lehre und Verbreitung von Schönbergs Beiträgen zur Musik. Durch die Ermöglichung des Zugangs und der Verfügbarkeit des Schönberg-Nachlasses für wissenschaftliche Studien und Forschung durch Wissenschaftler, Komponisten, Musiker und die Öffentlichkeit sollen diese Ziele finanziell gestützt werden.
Psycho-Soziales Zentrum ESRA
Dort, wo bis 1938 der "Große Leopoldstädter Tempel" stand, befindet sich heute das psychosoziale Zentrum ESRA, das 1994 im Zusammenwirken der Israelitischen Kultusgemeinde und der Stadt Wien gegründet wurde. Mit ESRA wurde eine innovative und professionelle Einrichtung geschaffen, die den Überlebenden der NS-Verfolgung und deren Nachkommen umfassende Hilfe anbieten soll, jüdische Migrantinnen und Migranten sowie deren Familien, die in den letzten Jahrzehnten nach Österreich zugewandert sind, in ihrem Integrationsprozess unterstützt sowie Beratung, Behandlung und Betreuung für die jüdische Bevölkerung Wiens offeriert. ESRA ist als Modell für interdisziplinäre Betreuung konzipiert. Menschen, die bei ESRA Hilfe suchen, finden sowohl medizinische Behandlungen als auch Leistungen der Sozialberatung unter einem Dach. Dies ist vor allem für die Überlebenden der NS-Verfolgung besonders wichtig, die bis in die 90er Jahre lange Leidenswege hinter sich haben. Ein multiprofessionelles Team aus ÄrztInnen, PsychologInnen, PsychotherapeutInnen, diplomierten SozialarbeiterInnen und diplomiertem Pflegepersonal behandelt und berät kostenlos oder gegen Vorlage der e-card. Angeschlossen sind ein Kommunikationszentrum, ein Kaffeehaus und ein koscherer Mittagstisch.
Sigmund-Freud-Museum
In den ehemaligen Wohn- und Praxisräumen zeigt das Sigmund Freud Museum im Haus Berggasse 19 eine Dokumentation über Leben und Werk des Begründers der Psychoanalyse. In diesem Haus lebte und arbeitete Freud von 1891 bis 1938, von hier aus trat er mit seiner Familie am 4. Juni 1938 die Flucht vor den Nationalsozialisten ins englische Exil an. Die Einrichtung des Museums erfolgte 1971 mit Hilfe von Anna Freud, der jüngsten Tochter Sigmund Freuds. Originale Einrichtungsgegenstände, unter anderem das Praxis-Wartezimmer sowie eine Auswahl aus Freuds privater Antikensammlung, Autographen und Erstausgaben seiner Werke geben Einblick in die Biographie Freuds, sein kulturelles Umfeld und die Entstehung der Psychoanalyse. In einem Videoraum werden historische Filmaufnahmen gezeigt - private Momente aus dem Leben Freuds und seiner Familie - zusammengestellt und kommentiert von Anna Freud.
Wenn Sie nach dem Besuch des Museums noch weitergehen wollen, bietet sich der kurze Weg zur Shoah-Namensmauern-Gedenkstätte im Ostarrichi-Park an.